Nach einigen Jahren im Lagerbecken sind die abgebrannten Brennstäbe so weit abgeklungen, dass man sie trocken lagern kann. Dazu gibt es alle paar Jahre eine sogenannte Castor-Kampagne. Die Beladung dieser Behälter ist Handarbeit, jedenfalls bei Druckwasserreaktoren. Neben dem Abklingbecken gibt es außerhalb des Bereichs der Lademaschine ein weiteres, in das der Castor passt. Zum Umladen wird am großen Deckenkran eine lange Stange befestigt, mit der sich die Brennelemente aufgabeln und durch einen schmalen Spalt ins Extrabecken fahren lassen, wo dann die Stange per Hand über dem passenden Slot im Castor feinjustiert wird. Beim Entladen des Reaktors zieht ein Greifarm die Elemente in eine abgeschirmte Röhre. Hier dagegen kann man sie aus der Nähe sehen – ein etwas zweifelhaftes Vergnügen. Nach dem Beladen muss der Behälter gründlich getrocknet werden, was manchmal 100 Stunden dauert. Einmal fotografiere ich dies, möglichst zügig und mit Abstand, während die Betreuer hinter einer Bleiwand warten. Dann kommt der Strahlenschützer zu mir. „Na, willst Du mal anfassen?“ Mit einigem Unbehagen greife ich nach einer Kühlrippe. Überraschend heiß, über 60 Grad. Ist nach der Trocknung die „Restfeuchteprüfung“ bestanden, kommt der Behälter ins benachbarte Zwischenlager. Diese Standort-Zwischenlager sind lange, graue Betonhallen. Vorne gibt es einen kleineren Empfangsbereich, hinter einer Wand dann den Lagerbereich, an dessen Ende die blauen, sechs Meter hohen Zylinder aufgereiht stehen. Aus der Nähe wirkt das wie der Wald dicker Säulen in einem ägyptischen Tempel. Ein frisch beladener Castor kann soviel Wärme entwickeln wie 70 Herdplatten. Die Halle wird also belüftet und ist durchweg kühl. Wenn man aber zwischen solchen Säulenreihen entlang geht, spürt man die Wärmestrahlung auf der Haut um so deutlicher – wie bei einem nächtlichen Lagerfeuer. Die Behälter werden hier voraussichtlich noch Jahrzehnte stehen, bis ein Endlager gefunden ist.
Zum Traum der grenzenlosen Energie gehörte die Wiederaufarbeitung. Das spaltbare U-235 ist eine knappe und teure Ressource. Uran besteht zu 99 Prozent aus dem nicht spaltbaren U-238. Die Idee war, mit Brutreaktoren möglichst viel davon in spaltbares Plutonium umzuwandeln. Auch normale Brennstäbe enthalten zu 95 Prozent U-238, und so entsteht auch im normalen Reaktor einiges an Plutonium. Das alles lässt sich in einer Wiederaufarbeitungsanlage extrahieren, was, im großen Maßstab umgesetzt, die Energiereserven vervielfachen würde. Auf vielen Schaubildern wurde ein Kreislauf gezeichnet, bei dem aus abgebrannten Stäben unverbrauchtes U-235 und erbrütetes Plutonium herausgeholt und zu neuem Brennstoff verarbeitet werden, dem Mischoxid. Grundlage ist der für die Bombe entwickelte Purex-Prozess („Plutonium-Uranium-Reduction-Extraction“), der allerdings nur mit Uran-, nicht mit Mischoxid funktioniert, und den Kreislauf zu einer einmaligen Schleife macht. Außer den Atommächten haben nur zwei Länder die Fähigkeit dazu entwickelt: Japan und Deutschland. Hier wurde in Karlsruhe über Jahrzehnte die Technik erprobt, deren Umsetzung in Wackersdorf dann am Widerstand der Bevölkerung scheiterte.
Brennelemente aus Deutschland wurden allerdings jahrelang im Ausland aufgearbeitet – im englischen Sellafield sowie im französischen La Hague. Und letzteres öffnet mir seine Türen. La Hague ist ein gut zwei Quadratkilometer großer Komplex und seit Mitte der Sechziger in Betrieb. Die einzelnen Bereiche stammen aus verschiedenen Perioden, manche aber sichtlich noch aus der Anfangszeit. Ich gebe schnell den Versuch auf, die Orientierung zu behalten, und folge meiner Führerin durch die Stationen. Ankommende Behälter werden als erstes entladen. Der Kontrollraum dafür könnte einem französischen Weltraum-Comic der Siebziger entstammen. Der Prozess selbst findet in einer großen „heißen Zelle“ statt, einer meterdick abgeschirmten Kammer mit Edelstahlauskleidung, die von orangenen Natriumdampflampen hell erleuchtet wird. Ringsum gibt es einen abgedunkelten Raum mit Manipulatoren und 1,20 Meter dicken Fenstern zur Zelle. Drinnen zieht ein Greifarm die Brennelemente aus ihrem Behälter, sie werden gedreht und auf Unversehrtheit geprüft. Dann kommen sie in Transportkörbe und werden in ein beeindruckend großes blaues Lagerbecken gestellt, das bereits gut gefüllt ist. Die folgenden, für Menschen eher unangenehmen Arbeitsschritte bekomme ich nicht mit: das Zerschneiden der Brennelemente, ihr Auflösen in heißer Salpetersäure und den anschließenden Gang durch den Purex-Prozess im „Canyon“ der Anlage, einer langen, abgeschirmten Gebäudestruktur. Zur Überwachung des Prozesses werden ständig Proben gezogen, um die sich ein Analysenlabor kümmert. Dessen fensterlose Räume beherbergen heiße Zellen mit schlitzartigen Bleiglasfenstern und einige paar Naturwissenschaftler. Wir sind unter uns. „Willst Du mal unsere Plasmafackel sehen? Die hat 10.000 Kelvin!“ Ich schaue beeindruckt Fackel und keramische Probenträger an und lasse mir die spektroskopischen Verfahren demonstrieren.
Als Abfall der Aufarbeitung verbleibt eine Suppe, deren hochgradig radioaktive und giftige Bestandteile nun in Glas eingeschmolzen werden. La Hague hat zwei Verglasungsanlagen, die ich in Augenschein nehmen kann. Die Bedienräume sind lang, schmal und mehrere Etagen hoch. Eine Seite grenzt an die ebenso hohe Zelle mit der Verglasungsmaschinerie. Die Wand ist von vielen Fenstern mit Manipulatorpaaren durchbrochen, die auf drei oder vier Ebenen liegen und über Metalltreppen und Bühnen erreichbar sind. Im Betrieb ist auch dieser Raum abgedunkelt, das dunkelgrüne Hintergrundlicht lässt die orangenen Fenster umso heller aufleuchten. Das heiße Glas wird in sogenannte Kokillen gefüllt, robuste Edelstahlflaschen, die anschließend verschweißt und gelagert werden, bis sie zum Ursprungsort des Mülls zurück gehen.
Etwas Wiederaufarbeitung fand auch in Deutschland statt. Als Pilotanlage für Wackersdorf gab es die Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe. 208 Tonnen Brennelemente wurden aufgearbeitet, wobei 80 Kubikmeter hochaktiver flüssiger Abfälle entstanden. Für diese wurde eine eigene Verglasungsanlage entwickelt und gebaut, die von 2005 bis 2010 für diese eine Charge in Betrieb war. Seither klingt sie ab, um dann wieder demontiert zu werden. Im Vergleich zum Pendant in La Hague wirkt hier alles hochmodern und klinisch sauber. Gänzlich unbenutzt sind, aus nuklearer Sicht, die Gebäude in Wackersdorf. Ein Teil des Areals ist heute ein BMW-Werk. Die geplante Eingangshalle für Brennelemente ist mit meterdicken Wänden gegen aufschlagende Flugzeuge gesichert. Der große Deckenkran ist eingemauert, der riesige Raum diente bei meinem Besuch als Abstelllager.
Das letzte Ziel des Atommülls liegt unter der Erde. Für leicht- und mittelradioaktiven Abfall existieren zwei umstrittene Endlager in Deutschland, Morsleben und die Asse. Ein drittes entsteht im Schacht Konrad bei Salzgitter. Alle eint, dass es in erster Linie Bergwerke sind. Man grüßt mit „Glückauf“ und trifft auf Kauen, Seilfahrten, Solen, Strecken, Bewetterung – und natürlich die Nische mit der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute. Unter Tage denke ich weniger an den Atommüll als daran, dass ich mich in einer winzigen Röhre unter 700 oder 1100 Metern Gestein befinde. Bei Konrad möchte man vieles besser machen. Tausend Meter unter Tage werden Zugangswege gebaut, welche sogar die Qualität von Alpentunneln haben. Die bekannten gelben Blechfässer sollen zusammengequetscht und in Betonblöcke eingegossen werden, bei denen man außen bereits keine Strahlung mehr messen kann. Diese werden dann später in den Endlagerkammern übereinandergestapelt, anschließend sollen die verbleibenden Hohlräume ebenfalls mit Beton verfüllt werden. Der Aufwand erscheint angesichts der überwiegend geringen Aktivität kolossal. Über Tage stehen allerdings überall gelb bemalte Fässer an den Straßen, als Zeichen des Protests gegen das Endlager.
Das ungleich größere Problem ist der hochradioaktive Müll. Das sind die bestrahlten Brennelemente und die Verglasungs-Kokillen aus den Castor-Behältern, die 99 Prozent der Radioaktivität bündeln – und vor allem den Teil, der auch in 100.000 Jahren noch gefährlich ist. Lange war in Deutschland dafür Gorleben vorgesehen, wo mit einigem Aufwand Erkundungsarbeiten vorgenommen wurden. Diese pausierten dann lange, bevor der Betrieb aus politischen Gründen ganz eingestellt wurde. Es war das modernste Bergwerk des Landes. Ich konnte kurz vor Schluss noch eine Befahrung machen und die weißen Kavernen im Salz besichtigen. Zum Abschied bot der Geologe einen orangerosafarbenen Kristallbrocken als Souvenier an. „Wollen Sie ein Stück mitnehmen? Das ist Himalaja-Salz... also, chemisch ist das jedenfalls das gleiche.“