Ausbildung

 

Im Essener Stadtteil Kupferdreh befindet sich ein spezielles Gebäude. Bereits der Springbrunnen davor ist etwas ungewöhnlich: Er besteht aus den Steuerstäben des nie ans Netz gegangenen österreichischen Atomkraftwerks Zwentendorf, die in einem runden Becken stehen. Das Gebäude beherbergt das Simulatorzentrum, in dem sich die Kontrollräume aller deutschen Kraftwerkstypen finden. Zuerst gab es nur einige generelle Simulatoren, zur Spitzenzeit waren es 14. Diese werden nicht nur zur Ausbildung benutzt. Ein Kernkraftwerk wird oft nur einmal im Jahr herunter- und wieder hochgefahren, es kann also sein, daß man im Schichtbetrieb nur alle paar Jahre dazu kommt. Damit der Umgang mit der Anlage nicht verlernt und im Krisenfall auch nicht aneinander vorbei geredet wird, müssen alle Reaktorfahrer und Schichtleiter jährlich für zwei Wochen nach Essen kommen, um Kommunikation und Technik zu trainieren. Die Kommunikationsausbildung wurde interessanterweise mit der Lufthansa erarbeitet, deren Besatzungen ähnliche Fähigkeiten brauchen. Das Simulatorzentrum beherbergt aber noch eine weitere Spezialität. Nach dem Unfall in Harrisburg wurde mit einigem Aufwand ein gläsernes Schulungsmodell für Biblis gebaut, ein kompletter Druckwasser-Primärkreislauf mit elektrisch geheiztem Reaktor, Pumpen, Druckhalter und zwei Dampferzeugern, dem man gut bei der Arbeit zuschauen kann. Das Modell ist heute in Essen aufgebaut, hinter einer Glaswand in einem sonst harmlos wirkenden Besprechungsraum. Damit es etwas „atomiger“ aussieht, können die Heizstäbe im Reaktor blau angestrahlt werden.

Bestimmend sind aber die großen Simulatoren. Viele davon gleichen ihren Originalen wie ein Ei dem anderen, und auch die Notwarten sind vorhanden. Die Räume wirken natürlich etwas steriler, manchmal unterscheiden sich auch Teppich- oder Deckenfarbe. Dafür werden teilweise Details wie Zimmerpflanzen getreu kopiert. Sogar eine hinter Betriebshandbüchern versteckte Pinup-Postkarte findet sich in Original und Simulation. Allerdings gibt es in jedem der Räume hinten eine Art Fahrlehrertisch, wo die Ausbilder sitzen und nach Belieben für Probleme sorgen können, vom Ausfall kleinster Bauteile in Schaltschränken bis hin zum Kühlleitungsbruch oder Flugzeugabsturz. „Die bringen uns immer ganz schön zum Schwitzen“, kommentierte ein Krafwerksmitarbeiter. Als ich beim ersten Besuch den Simulator von Isar 2 fotografiere, zeigt der Raum noch den Zustand der letzten Übung: Der schnellabgeschaltete Reaktor leuchtet rosa auf dem Bildschirm, und viele Kontrolleuchten blinken weiß. In einem echten Kraftwerk ist Schichtleitern schon ein einziges weißes Lämpchen unangenehm. „Sollen wir das Licht mal ausschalten? Wir können ja dafür ein paar andere anmachen“, bietet einer der Ausbilder an. Und dann wirkt die dunkle, stille Warte nur im Schein ihrer Bildschirme und der mit einem Hertz blinkenden Anzeigen wie die Brücke eines verlassenen Raumschiffs, über die ich spaziere. Die Kulisse wirkt zu surreal: Ein Gefühl für die Dramatik, die diese Szene im echten Leben bedeuten würde, stellt sich nicht ein. Im Hintergrund stehen die Ausbilder und trinken Kaffee.

Heute gibt es noch neun Simulatoren, davon einen für das niederländische Kraftwerk Borssele. Die nach der Abschaltung ihrer Vorbilder nicht mehr benötigten Modelle werden abgerissen, und einmal darf ich dabei sein. Wenn ein Kernkraftwerk zurückgebaut wird, bleibt die Warte lange erhalten – nur die nicht mehr benötigten Instrumente werden im Lauf der Rückbaujahre durch graue Plättchen ersetzt, wodurch der Raum immer unspektakulärer wird. Hier sieht die Sache drastischer aus. Die funktionstüchtige und einst sehr teure Maschinerie wird auseinandergeschraubt und verschrottet. Ich hätte gedacht, dass Technikmuseen sich darum reißen würden, ein solches Ensemble zu erhalten. Das Gegenteil ist der Fall. Zurück bleiben seltsame Orte, die einmal etwas waren. Ausbilder, die dort einen guten Teil ihres Lebens verbracht haben, meiden die Räume – so berichtet es jedenfalls mein Betreuer beim ersten Besuch. Beim zweiten Mal ist er bereits in Rente.

Ebenfalls im Verschwinden begriffen ist eine einfachere Kategorie von Ausbildungsgeräten: die ab 1963 betriebenen Siemens-Unterrichtsreaktoren. Von früher zwölf SUR-100s sind heute noch drei aktiv. Ein SUR ist ein etwa drei Meter hohes, tonnenförmiges Gebilde, grau lackiert und mit Reling oben drauf, in dem ein Kochtopf-großer Kern steckt. Dessen zwei Hälften bestehen aus PET und etwas angereichertem Uran. Die untere Hälfte wird von Elektromagneten festgehalten – schaltet man den Strom ab, fällt sie herunter, und der Reaktor ist aus. Die Höchstleistung der Maschine liegt bei einem Watt, so dass sie ihren Brennstoff kaum verbraucht, sich fast nicht erwärmt und praktisch ewig betrieben werden kann. In der DDR gab es an der TU Dresden einen SUR-Nachbau namens AKR (Ausbildungs-Kernreaktor), der nach einer technischen Auffrischung heute Deutschlands modernster Ausbildungsreaktor ist. Er schafft etwa zwei Watt im Dauerbetrieb. Ich will diesen AKR-2 eigentlich nur fotografieren, bekomme dann aber doch einen kleinen Crashkurs als Reaktorfahrer. Instinktiv hatte ich immer gedacht, dass im Grundzustand die Steuerstäbe eingefahren und bei hoher Leistung herausgezogen wären. Real sind sie beim AKR immer in einer mittleren Position, welche die Kettenreaktion und damit die Anzahl der herumfliegenden Neutronen konstant hält – egal, ob das 100 oder 100 Millionen sind. Zieht man die Stäbe kurzzeitig etwas heraus, wirkt das wie ein Tritt aufs Gaspedal, steckt man sie tiefer hinein, bremst man ab. Nach jeder Bewegung muss ich eine Minute warten und auf dem Bildschirm verfolgen, welche Auswirkungen meine Aktion hat. Und tatsächlich bekomme ich schnell ein gewisses Gespür dafür, wie der Hase läuft und man die Balance hält. Natürlich ist die Steuerung eines Leistungsreaktors eine andere Hausnummer, mit seiner Anordnung verschieden alter Brennelemente, dem Abbrand seit der letzten Beladung und vielen anderen Faktoren. Das Prinzip aber ist gleich. Und so schrecke ich auch etwas davor zurück, als mich der Reaktorleiter am Ende dazu auffordert, alle drei Steuerstäbe so weit herauszufahren wie möglich. Etwas besorgt verfolge ich den exponentiellen Anstieg der Kettenreaktion auf dem Monitor. Die immer steiler werdende Kurve durchbricht die Zwei-Watt-Grenze. Zweikommaeins. Bei 2,2 Watt ertönt ein Warnsignal in der Halle. Ich schaue verunsichert zu den Experten, wie ein Kind, das nach Aufforderung eines Erwachsenen etwas Verbotenes tut. Zweikommadrei, zweikommavier. Da gibt es ein leichtes Aufprallgeräusch, die untere Kernhälfte ist heruntergefallen. RESA, Reaktorschnellabschaltung. Im Atomkraftwerk wäre das ein meldepflichtiges Ereignis und brächte eventuell „politischen Fallout“ mit sich, am AKR sorgt es nur für einen zufriedenen Blick des Reaktorleiters.

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