Erstaunlicherweise war es möglich, für dieses Buch ein deutsches Atomkraftwerk im Bau zu fotografieren, ganz ohne Zeitmaschine. Im Jahr 1981 begann Brasilien nach langjährigen Planungen und Vorarbeiten mit dem Bau eines Siemens-Druckwasserreaktors. 1985 kaufte das Land die komplette Technik für einen weiteren Block. Am idyllischen Standort Angra an der Atlantikküste gab es schon ein kleineres AKW von Westinghouse. Der Bau der ersten deutschen Anlage, Angra-2, zog sich allerdings bis zum Jahr 2000 hin; die Komponenten für den weiteren Block wurden währenddessen eingelagert. Im Jahr 2010 begann schließlich der Bau von Angra 3 – einem „Vor-Konvoi“-Schwesterkraftwerk von Grafenrheinfeld. Nach einigen Anfragen habe ich auf drei verschiedenen Wegen eine Fotoerlaubnis erhalten, die zwei Tage vor Abreise aber plötzlich auf der Kippe steht: „Ich hoffe, Sie haben noch keinen Flug gebucht?“ Mit etwas Last-Minute-Diplomatie und dem gutem Willen der Beteiligten geht dann doch alles gut. Ich kann mehrere Tage lang die Baustelle besichtigen, bekomme einen Platz in den Baracken der Ingenieure und darf nach freundlicher Fürsprache auch noch eine Tour durch den laufenden Block 2 machen.
Angra überrascht durch Schönheit. Das Kraftwerk liegt an der Atlantikküste zwischen Rio de Janeiro und São Paulo, und das malerische Gebirge läuft wie in Rio ins Meer aus. Vor der Küste befindet sich die Ilha Grande, eine der schönsten Inseln und Top-Touristenattraktionen Brasiliens. Auch das Kraftwerk ist ungewöhnlich: Maschinenhaus, Reaktorhilfs- und Schaltanlagengebäude sind in warmen Pastellfarben gehalten und mit geriffelten, abgerundeten Fassadenteilen versehen, so dass sie fast als Art-Déco-Ensemble durchgehen. Die Reaktorkuppel dagegen ist weiß lackiert. Abends spiegelt sich der tropische Sonnenuntergang auf ihr und dem Meer, und das von Palmen umgebene Arrangement wirkt wie ein kitschiges Airbrush-Poster aus den Achzigern. An einem solchen Abend stehe ich auf einem Aussichtspunkt, der Himmel ist orange und violett. „Meine Anlage“, stellt ein leitender Ingenieur neben mir zufrieden fest.
Angra 3 befindet sich zu diesem Zeitpunkt in der fortgeschrittenen Rohbauphase. Das Maschinenhaus ist schon fertig, dem Reaktorgebäude fehlt noch die Kuppel. Vom Sicherheitsbehälter steht die untere Halbkugel, in deren Zentrum der biologische Schild des Reaktors gebaut wird. An einer anderen Stelle werden große Schalenstücke für die zweite Kugelhälfte mit einem Kran herumgeschwenkt, während Bauarbeiter die unter einem Zelt lagernde obere Polkappe inspizieren. Ich darf mich relativ frei bewegen. Die noch offenen, später unterirdischen Ein- und Auslassbauwerke für das Kühlwasser können wir ebenfalls betreten. Auch das Dach des Maschinenhauses ist zugänglich, von wo aus man einen guten Überblick hat. Die Umgebung ist spektakulär, die große Baustellenlandschaft wirkt aber alles andere als wuselig oder hektisch. Man streckt sich lange erhobene Daumen entgegen, was dem Vernehmen nach auch als Ausweis-Ersatz gilt, und ist generell tiefenentspannt, wie die Deutschen berichten. Angra 3 hat zwischenzeitig mit Finanzierungsproblemen und anderen Fährnissen zu kämpfen, so dass der Bau streckenweise nur langsam vorankommt oder still steht. Gleichzeitig ist es eine Großbaustelle unter tropischen Bedingungen, und es ist keine kleine Leistung, dabei alle Beteiligten jahrelang bei der Stange und auch die Geräte einsatzbereit zu halten, wie etwa den großen Kran. Ein anderes Problem ist das Material. Die Technik ist seit den Achzigern eingelagert. Es wurden allerdings diverse Elemente „kannibalisiert“, also als Ersatzteil für den schon laufenden Block 2 verwendet, und müssen neu beschafft werden. Außerdem werden gerade angelieferte Rohre reklamiert. „Das können die für Lebensmitteltechnik nehmen, aber nicht für Kernkraft! Die müssen das Qualitätslevel erst wieder lernen.“
Auch im kühlen Nordeuropa wird gebaut. Kerntechnik hat viel mit Übung zu tun, und die Seltenheit neuer Kraftwerksbauten hat auch in Finnland zu vielen Verzögerungen beigetragen. Am finnischen Standort Olkiluoto wurde, als dritter Block, ein europäischer Druckwasserreaktor gebaut. Dieser EPR ist der Nachfolger sowohl der deutschen Konvoi- als auch der französischen N4-Kraftwerke, und sozusagen die letzte Kraftwerksgeneration mit deutscher Technik. Es ist ungleich schwieriger, hier die Erlaubnis für einen Besuch mit Kamera zu bekommen. Die Baukosten für OL-3 haben sich vervielfacht, und Areva und der finnische Betreiber TVO befinden sich in einem Rechtsstreit. Nach einigen Jahren und mit Unterstützung der TVO und aus Erlangen erhalte ich doch grünes Licht. Der Bau ist unterdessen fast abgeschlossen, und die Anlage befindet sich in der Inbetriebsetzung. Vor Ort muß ich allerdings zuerst einen restriktiven Fünf-Parteien-Vertrag mit TVO, Siemens, Areva Frankreich und Areva Deutschland unterschreiben.
Auch Olkiluoto ist stärker gestaltet als viele Anlagen in Deutschland oder die ihnen gleichenden anderen EPRs in Frankreich oder China. Die ersten beiden Blöcke sind in der roten Farbe traditioneller nordischer Landhäuser gehalten, samt weißer „Eckpfosten“. Block 3 greift die rote Grundfarbe ebenfalls auf, das runde Reaktorgebäude ist allerdings aluminiumverkleidet wie ein klassischer deutscher Forschungsreaktor der Sechziger. Abgesehen von der Hülle überrascht die Komplexität. Im Vergleich zu deutschen Anlagen gibt es sehr viel mehr Gänge, Räume, Treppen, Weggabelungen und Türen, für die man sich erst Schlüssel besorgen muss. Der Weg vom Reaktor zum baulich getrennten Abklingbecken dauert gefühlt eine Stunde. In den Fluren streichen Arbeiter gerade akribisch Rohrleitungen, unter dem Reaktor wird der Kernfänger inspiziert, und in der asymmetrisch gestalteten Warte testen Franzosen und Finnen die Systeme. Siemens ist für das Maschinenhaus verantwortlich und schon seit einer Weile fertig. Die Läufer der stärksten Turbine der Welt stehen weiß verhüllt in der Halle herum und warten auf den Einsatz. Am interessantesten ist natürlich der Reaktorbereich. Die Geometrie des Reaktorsaals ähnelt der von Siemens-Kraftwerken, die Dampferzeugerblöcke sind aber wesentlich höher. Auch die Materialschleuse erscheint riesig. Fast alle Komponenten sind in bläuliche Plastikplanen gehüllt, der Druckbehälter-Deckel, das Flutbecken, die Dampferzeuger in ihren Blöcken – aber hier und da liegt doch etwas frei. Die meterdicken Panzertüren zum Sperrbereich um den Reaktor stehen mir offen, einige Teile des Primärkreislaufs sind sichtbar – baumdicke Edelstahlrohre, von denen man später Abstand halten wird. Auch der Reaktor ist gerade geöffnet, sogar ein Brennelement-Dummy steckt darin: Die Lademaschine wurde soeben getestet. Das darf ich aber nur vom Dampferzeuger aus aufnehmen, die bessere Aussicht von der Lademaschine ist tabu. Als ich später doch darauf darf, ist wieder alles mit Plastikplane verhüllt. Das macht aber nichts, denn die Fotos von dort werden hinterher alle zensiert.
Die Bilder laufen später durch mehrere Rechtsabteilungen, die vermutlich angesichts der juristischen Spannungen und der kritischen Öffentlichkeit fast nichts freigeben wollen, nicht einmal die Aufnahmen von der Terrasse des öffentlichen Besucherzentrums. Nach etwas deutsch-finnischer Folgediplomatie dürfen aber schließlich doch einige Fotos den Weg zumindest ins Buch finden.