Der Beginn einer neuen Ära der Wissenschaft war ein zentrales Versprechen der Atoms-for-peace-Initiative, und ein großer Teil der amerikanischen wie sowjetischen Förderung floss in diesen Bereich. Auch die Bundesrepublik steckte erhebliche Mittel in die Kernforschung. Die dabei entstandene Landschaft hatte ich in ihrer Dimension und Ästhetik früher nie bemerkt, obwohl ich sogar gut zwei Jahre lang in Karlsruhe tätig war. Mein erster Besuch am ehemaligen Kernforschungszentrum war eine kleine Zeitreise in die Siebziger. Ein freundlicher Mitarbeiter fuhr mich im hell-elfenbeinfarbenen Strich-8 über das riesige, autogerecht angelegte Gelände, dessen Flachbauten von einigen markanten Kuppeln überragt wurden. Dabei erläuterte er die optischen Sünden der energetischen Gebäudesanierung, während er auf die verborgenen Reaktoren und teilweise unscheinbaren Sehenswürdigkeiten am Wegesrand hinwies, etwa die zersägten Reste von Kernschmelz-Simulationen. Ich kannte Bilder aus der Blütezeit des amerikanischen Apollo-Programms, wo die Ingenieure ihre Autos zu Dutzenden direkt um die Startrampen der Raketen herum parkten, und gewann den Eindruck eines ganz ähnlichen Aufbruchsgeists, der hier einmal geherrscht hatte. Auch die Architektur besaß eine eigene ästhetische Linie. Schon das ikonische Atom-Ei von Garching hatte eine Haut aus spiegelblankem Aluminium. Zu meiner Überraschung waren auch in Karlsruhe alle Reaktoren einst mit dem Metall verkleidet oder hatten zumindest eine glänzende Kuppel. Beim Gebäude des Brüter-Experiments SNEAK, der Schnellen Nullenergie-Anordnung Karlsruhe, stellte ich später fest, dass unter der heutigen Außenwand ebenfalls ein Aluminium-Zylinder verborgen ist. Der erste Reaktor des Forschungszentrums, der FR 2, hat darüber hinaus einen Aluminium-verkleideten Kontrollraum, die sogar über ein Fenster zum Reaktorsaal verfügt und wie eine Filmkulisse von Ken Adams gestaltet ist. Die Jülicher Reaktoren Merlin und Dido wurden ebenfalls in Silber gehüllt, und auch in Geesthacht springt ein rundes, fensterloses und mit Aluminium verkleidetes Gebäude ins Auge, in dessen meterdicke Mauer offenbar nachträglich eine Hallentür mit Fenstern eingebaut wurde. Die frühere Funktion des Bauwerks kannte bei meinem Besuch keiner der Anwesenden mehr, aber durch die Fenster der Tür war an der Decke ein Rundlaufkran sichtbar – natürlich stand hier einmal ein Reaktor.
Abgesehen von einigen Anlagen in Karlsruhe und Jülich dienten und dienen fast alle Forschungsreaktoren als Neutronenquellen. Um eine solche Quelle herum entsteht oft eine ganze Landschaft angedockter Instrumente und Großversuche, die manchmal mehrere Hallen füllt und in Technik-Labyrinthe verwandelt. Nicht selten treffen Alltag und Extreme aufeinander: Gerätschaften und Vorrichtungen sind oft Einzelstücke aus der Forschungswerkstatt, es wird gebastelt und improvisiert. Irrsinnig teure Spezialanfertigungen finden sich neben Pfennigartikeln aus dem Baumarkt, vollgestopfte kleine Büros neben hochreinen Arbeitsräumen. Hier und da stehen „Statussymbole“ in der Ecke, deren Wert weltweit nur wenige Menschen kennen. Manche Aufbauten wirken wie Do-it-yourself-Science-fiction, einige Großgeräte aber auch wie mit der Zeitmaschine aus der Zukunft importiert. Es herrscht ein Pragmatismus, der für eine disziplinübergreifende Ästhetik der Grundlagenforschung sorgt: Noch die geordnetste neue Anlage wird mit Ergänzungen, Erweiterungen, Korrekturelementen und Hinweiszetteln überzogen. Die größte solche Landschaft durfte ich rund um den FRM II in Garching erkunden, wo es in einer Ecke sogar improvisierte Tunnelgänge gibt, die zu einer verborgenen Kontrollstelle im Inneren einer großen Gerüst- und Planenkonstruktion führen, einem von Serverlämpchen und Bildschirmen erhellten Versteck für große Kinder. Es gibt sogar eine friedliche wilde Katze, die eingelassen, versorgt und natürlich nach Schrödinger benannt wird. Ich bekomme an solchen Orten immer ein bestimmtes Heimatgefühl, und lasse mich von der Begeisterung der Beteiligten anstecken.
An Forschungsreaktoren kann man auch heute noch die verborgene Magie des Atomzeitalters erleben: die Tscherenkow-Strahlung. In Kernkraftwerken ist sie nur einmal im Jahr zu sehen, viele Tage nach dem Abschalten, als matter Schein in hell beleuchteten Becken. Wissenschaftlichen Schwimmbadreaktoren kann man dagegen während der Arbeit zuschauen, das Beckenlicht kann dabei problemlos abgeschaltet werden. In seiner reinsten Form habe ich die Tscherenkow-Strahlung am TRIGA in Mainz erlebt, der eine Besonderheit aufweist: Der Reaktor kann prompt überkritisch gefahren werden. Was überall sonst unbedingt vermieden werden muss, ist hier Programm. Die Steuerstäbe lassen sich komplett aus dem kleinen Reaktor herausschießen, der seine Leistung daraufhin in Millisekunden von null auf 250 Megawatt steigert und dabei einen intensiven blauen Lichtblitz abgibt. Das Uran des Reaktors ist in eine spezielle Matrix eingebettet. Wenn diese heiß wird, beschleunigt sie Neutronen, die dann nichts mehr spalten können. Die Reaktivität sinkt fast ebenso schnell auf Null, wie sie zuvor angestiegen ist, und man sieht ein langsames blaues Ausglühen am Boden der Röhre. Nach zehn Minuten ist der Reaktor wieder abgekühlt und der nächste Puls ist möglich. Zum Fotografieren darf ich meine Kameras knapp über dem Wasserspiegel positionieren und mit Hilfe eines langen Kabels, einiger Elektronikbauteile und der Forschungswerkstatt einen Apparat sogar direkt vom Kontrollraum auslösen lassen. Das Hallenlicht wird gelöscht, durch etwas scheppernde Lautsprecher ein Countdown abgezählt, dann kommt der weißblaue Blitz – und ich bin geflasht. Mit einem mechanischen Geräusch fallen die Steuerstäbe zurück in ihre Position, während ich in der Betrachtung des langsam tiefer werdenden Blaus verharre, wie die Besucher des Demonstrationsreaktors „Saphirs“ im Jahre 1955. Ich bin davon so gebannt, dass ich gar nicht auf die naheliegende Idee komme, den Blitz für ein Selbstportrait zu nutzen.