Atomkraftwerke besitzen eine eigene Ästhetik, die, überspitzt gesagt, vom Banalen bis ins Sakrale reicht. Die Anlagen belegen stets ein ganzes Areal, auf dem sich Reaktorgebäude, Maschinenhaus, Hilfs- und Schaltanlagengebäude, Kühlwasserbauten, eine Werkstatt, die Verwaltung, ein verbunkertes Notstandsgebäude, nicht selten ein, zwei Kühltürme und ein Castor-Zwischenlager befinden, mindestens – alles umgeben von einem Sicherheitszaun, versehen mit Stacheldraht, Kameras und bisweilen Nebelwerferbatterien. Diese befestigten Gebiete unterscheiden sich an vielen Stellen kaum von anderen Industrieanlagen: funktionale, graustichige Architektur, farblich markierte Fuß- und Fluchtwege, Arbeitssicherheits-Schilder, Kranbahnen und beschriftete Rohrleitungen bestimmen das Bild. Auch manche Reaktorgebäude sind schlichte Betonklötze. Prince Charles bezeichnete Mitte der 1970er den brutalistischen Neubau des Royal National Theatre als „a clever way of building a nuclear power station in the middle of London without anyone objecting“, ein auch in Deutschland möglicher Vergleich, betrachtet man etwa die Berliner Volksbühne und manche Vertreter der Siedewasser-Baulinie 69.
Viele Reaktorgebäude haben allerdings etwas ikonisches. Westdeutsche Druckwasserreaktoren besitzen markante Kuppeln, die zum Symbol für die Technik wurden. Diese Dome sind weiß oder betongrau, die umgebenden Bauten aber oft farbig gehalten. Teilweise sollen sie damit der Landschaft angepasst werden: Für Grohnde gab es die behördliche Anordnung, die Farben strohgelb und ackerbraun zu verwenden. Ackerbraun findet sich auch in Brunsbüttel, in Gösgen ist es ein dunkles blaugrün. Gundremmingen hat ebenfalls braun verkleidete Nebengebäude, was hier aber die weißen Reaktorzylinder mit ihren roten Zugängen nur um so deutlicher hervorhebt. An einem sonnigen Tag erscheint diese Anlage wie ein Hopper-Gemälde. Wirklich spektakulär aber ist Angra 2, das bereits weiter vorn beschriebene Art-déco-Kraftwerk mit seinen Pastellfarben. Nachts erlebe ich, wie ein tropischer Regenguss auf die Anlage niedergeht. Der dichte Regen reflektiert das Licht der gelb angestrahlten Kuppel, die dadurch eine breite, etwas unheimliche Aura bekommt. Eindrucksvoll sind auch Kühltürme, über die in relativer Stille mehrere Gigawatt Wärme abgeführt werden. Bei manchen Anlagen werden die riesigen Dampfsäulen nachts zusammen mit Türmen und Reaktorbau angestrahlt, als belebter Oberteil eines in orange getauchten Objekts. Was aus der Ferne wie der Schein eines Großbrandes aussieht, lässt aus der Nähe die Kraft spüren, die umgesetzt wird.
Der Weg hinein verläuft in Etappen. Man reist im Auto an und kommt auf das äußere Kraftwerksgelände. Dort befindet sich manchmal schon ein Kühlturm, vor allem aber das zentrale Eingangsgebäude. Nach Kontrollen und Schulungen betritt man dann das eigentliche Gelände hinter dem Sperrzaun. Das ist der „äußere Sicherungsbereich“, zu dem die meisten Gebäude zählen. Die architektonische Nüchternheit setzt sich dabei weitgehend fort. Kritische Abteilungen sind eine Hürde weiter im inneren Sicherungsbereich. Hier befindet sich die Warte, das Gehirn des Kraftwerks. Dieser Kontrollraum ist in jedem Kraftwerk anders gestaltet, und mehr als jeder andere Bereiche ein Spiegel seiner Erbauungszeit. Im VAK Kahl (Bau von 1958 bis 1960) war dies geschwungen gebauter Aufbruchsgeist des Atomzeitaltes. Rheinsberg (1960 – 1966) dagegen ist eher ein kantiger Bauhaus-Vertreter, dessen Pulte von Bakelit dominiert werden. Zwentendorf (1971 – 1977) hat noch die kugeligen Röhrenbildschirme der Siebziger. Grafenrheinfeld (1975 – 1981) ist wiederum mit braunem Holz vertäfelt, mit dunklen Teppichfliesen ausgelegt und warm beleuchtet. Das 1984 fertiggestellte Grohnde nimmt schon die frühen 90er mit ihrem Laminat vorweg, Fußböden und Wände sind aus hellblauem Kunststoff, die Möbel in rötlicher Buchenoptik. Unabhängig von der konkreten Gestaltung ist die Warte im Leistungsbetrieb der Ort, an dem für mich am besten zu spüren ist, mit welchen Kräften im Hintergrund hantiert wird. Vom Flur aus kann man meist durch Glasscheiben hineinschauen, muss aber zunächst durch einen Vorraum und wartet, bis man hinein darf. Die Atmosphäre wirkt sehr konzentriert, man spricht wenig und gedämpft. Ab und zu läuft einer der Reaktorfahrer zu einer Wand oder einem Pult und schaut nach einer Anzeige. Die markanteste davon ist in vielen Anlagen der Leistungsanzeiger der Turbine, der wie ein roter Pac-Man aussieht und „Papagei“ genannt wird. Steht der Schnabel rechts, herrscht Volllast.
Im Normalfall ist das Kraftwerk in diesem Zustand. Der Reaktor ist „heiß“, das Becken darüber trocken und zum Strahlenschutz mit großen Betonriegeln abgedeckt. Im Maschinenhaus neben der Turbine herrscht ohrenbetäubender Lärm, die schweren Fundamente vibrieren. In den Kühltürmen rauscht ein steter Wasserfall, die von den Trafos abgehenden Hochspannungsleitungen knistern vernehmlich. Das alles funktioniert mit einer vergleichsweise kleinen Besatzung von wenigen hundert Leuten. Etwa einmal im Jahr aber gibt es eine Revision, in der neue Brennelemente geladen werden. Währenddessen werden alle Reparaturen erledigt, für die die Anlage stehen muss. In dieser Zeit sind gut und gerne 1000 zusätzliche Arbeitskräfte auf dem Gelände, die sonst typische Ruhe weicht einem Gewusel. Nur jetzt sind aber die beiden Orte zu sehen, die fotografisch am eindrucksvollsten wirken. Der erste Ort befindet sich im Inneren des Kühlturms, die sogenannte Lamellenebene. Der monumentale Raum, groß genug, um jeden Kirchturm zu umfassen, wird nur durch die über hundert Meter entfernte Öffnung am Himmel beleuchtet. Er vermittelt den Eindruck eines überdimensionalen Pantheons, düster und erhaben.
Der zweite Ort ist weniger leicht zu erreichen, er befindet sich in der innersten Schutzzone, dem Kontrollbereich. Möchte man hinein, so muß man seine Kleidung komplett wechseln. Anschließend steckt man in einem orangenen Overall und trägt einen gelben Helm. Bei Druckwasserreaktoren gelangt man nun durch eine massive Personenschleuse ins Innere. Jetzt noch zwei, drei Treppen und man steht im Reaktorraum, unter der 56-Meter-Kuppel des Sicherheitsbehälters. Noch ist der beige-grau gehaltene Saal relativ unspektakulär.
Zu Beginn der Revision aber werden die Betonriegel vom Becken gehoben. Und nun ist für kurze Zeit das hell erleuchtete, blitzende Edelstahlbecken zu sehen. In der Mitte sitzt der Reaktordeckel, umgeben von einer ebenfalls glänzenden Isolierhaube. Aus diesem Deckel ragt eine Armada silbriger Zylinder empor, in denen sich die Steuerstabmotoren verbergen. Dies ist das innere Heiligtum, wie der nur selten enthüllte Hibutsu japanischer Klöster. Ich stehe im orangenen Mönchskittel am Beckenrand und schaue hinab. Es sind vielleicht zehn Leute im Saal. Alle, die gerade Zeit haben, machen das gleiche. Wir stehen und schauen. Nun wird erst die Isolierhaube entfernt, dann lösen Arbeiter im Vollschutz die zyklopischen Bolzen, mit denen der Deckel festgeschraubt ist, bevor die Haube wieder aufgesetzt wird. Wir schauen. Dann gibt es standardmäßig einen Räumungsalarm: Damit möglichst wenige eventuell austretenden Aerosolen ausgesetzt werden, bleiben nur die nötigsten Personen hier. Wir ziehen die Kapuzen über und setzen weiße Feinstaub-Schutzmasken auf. Jetzt wird der strahlende Deckel abgehoben. Der sonst unbeeindruckte Rundlaufkran kreischt buchstäblich unter dieser Last. Unter dem Deckel taucht das Reaktorinnere auf, das obere Kerngerüst mit den Steuerstäben. Einige Arbeiter bleiben am Beckenrand und messen permanent die Aktivität, bis der Deckel zu nahe kommt. Wir anderen haben uns auf einen Dampferzeugerblock verzogen und beobachten das Geschehen aus sicherer Entfernung. Dann ist der Moment vorbei, der Deckel auf seinem Platz hinter Betonwänden, das Becken mit einer Plane verdeckt und bereit zum Fluten. Das gefüllte Becken erscheint später durch seine kühle Beleuchtung dunkelblau. Das obere Kerngerüst wird aus dem Reaktor entfernt, und man kann nun mit der Lademaschine zwischen Reaktor und Abklingbecken hin- und herfahren, um die Brennelemente auszutauschen und neu anzuordnen. Und da, ganz unten im Reaktor an den Brennstäben, ist sie wieder matt zu sehen: die Tscherenkow-Strahlung.
Schon beim ersten Besuch eines Kernkraftwerks ist mir eine besondere Arbeitsatmosphäre aufgefallen. Jenseits der Zugangskontrollen, in den Verwaltungsgebäuden, herrschte eine ruhige, bedächtige und teils familiäre Stimmung, die ich eher in einer Gemeindeverwaltung erwartet hätte. Mitarbeiter verpassten sich Rückenmassagen und machten kleine Witze, und ich habe nie jemanden gesehen, der rannte oder auch nur die Schritte beschleunigte. Das Gefühl stellte sich auch bei den folgenden Kraftwerken immer wieder ein, auf Außengeländen zwischen Nebelwerfern, in Kontrollräumen, in internen Meetings zur Reaktoröffnung. Es fühlt sich an, als sei man in einer sicheren Burg, wo nichts passieren kann und nichts übereilt getan wird. Man sei so auf Sorgfalt gepolt, kommentierte ein Mitarbeiter nur halb im Spaß, dass man für Arbeiten außerhalb der Kernkraft später zu langsam sei.
Der übliche Arbeitsplatzhumor findet sich natürlich ebenfalls, hat aber eine größere Fallhöhe. Wer hier für die technische Sicherheit verantwortlich ist, braucht eine Portion Selbstironie, um sich ein riesiges Comic-Bild ins Büro zu hängen – zumindest dann, wenn das Bild Homer Simpson zeigt, der gerade zwischen blinkenden AKW-Konsolen verzweifelt. Daneben gibt es eine bemerkenswerte Hilfsbereitschaft, die auch mir oft zuteil wurde. Um spontane Wünsche möglich zu machen, wurden lange Wege zurückgelegt und viele kleine Gefälligkeiten von weiteren Leuten eingefordert. Fast routinemäßig gab es Witze im Strahlenschutz über den schönen Fotoapparat, der ja bestimmt gleich kontaminiert würde und dann leider hier bleiben müsse – und im Ernstfall viel Hilfe, um ebendies zu verhindern. Im brasilianischen Angra hatte man eine Bodycounter-Messung bei meiner Abreise vergessen – eine Strahlenschutz-Prozedur, die bei vergleichbaren Besuchen in Deutschland gar nicht nötig ist, deren Fehlen nun aber für Probleme sorgte. Ob ich das in einem Kernkraftwerk in der Nähe nachholen könne? Beim nächsten Besuch in Brunsbüttel war das dortige Gerät schon fast nicht mehr im Einsatz und der Verantwortliche bereits auf dem Heimweg. Aber es fand sich ein Kollege, der zwar auch schon seit einer Stunde bei seiner Familie sein wollte, der aber mit dem Counter umgehen konnte, mit einigem Aufwand den Schlüssel zum Messzimmer auftrieb und die langwierige Messung durchführte.
Solche Erfahrungen scheinen kein Zufall zu sein. Ein Schichtleiter berichtete mir, dass er nach seiner Bewerbung in ein Assessment-Center musste. Dort bekam jeder einige Informationen, die es mit denen der anderen Teilnehmer zu ergänzen galt. Der erste mit allen Informationen hätte gewonnen – ein klassischer Ellenbogen-Test. Alle durchsetzungsstarken Egozentriker flogen dann raus, nur die Hilfsbereiten blieben übrig. Und so finden sich in den Kernkraftwerken viele ruhige, freundliche Menschen.
Daneben ist man sich überall bewusst, wie sehr Atomkraft gesellschaftlich wie medial angefeindet wird. Die Betreiber unternehmen einiges, um weitere Angriffsflächen zu reduzieren. In Grafenrheinfeld etwa war der Kühlturm nicht besteigbar, um oben brütende Vögel nicht zu stören. Für Tauben wurden beheizte Luxus-Häuser gebaut, um die Tiere vom Bekleckern der Gebäude abzuhalten. Eine „Fischverscheuchungsanlage“ schließlich sorgte dafür, dass angesaugtes Kühlwasser keine unnötigen Opfer unter den Flußbewohnern fordert. Und jedes rostige Zaunstück wurde schnell ersetzt, damit nicht die nächste Kampagne vom Maschendraht auf den Reaktor schließt. An vielen Stellen war eine latente Trauer zu spüren. Die kerntechnische Welt befindet sich im Rückgang und Abbau. Es gibt wenig Nachwuchs, der hier eine Zukunft sieht, auch viele Besucherzentren wurden bereits geschlossen. Auf die Technik der Anlagen scheinen fast alle stolz zu sein. Mein Wunsch, diese zu fotografieren, stößt dennoch mehrfach auf Unverständnis. Als ich zwischen den Mitarbeitern am Beckenrand stehe und wie alle hinunter schaue in die silberne Pracht, da fragt mich einer, warum ich denn Fotos mache. „Ein Buch? Das will doch keiner sehen.“