Rückbau

 

Kernkraftwerke im Rückbau verströmen eine gewisse Melancholie. Auch wenn der Prozess Jahrzehnte dauert und die Arbeit dort oft spannender als in vielen anderen Bereichen ist, handelt es sich um ehemalige Orte, deren eigentliche Funktion erloschen ist. Ziel aller Arbeit ist, den Arbeitsplatz verschwinden zu lassen. Der Personalstand verringert sich immer weiter. Leitstände verlieren ihre Aura, wenn die Bedienelemente abgebauter Teile durch Plastikkacheln ersetzt werden. Ein bei Null stehender Leistungsanzeiger ist sogar mit Abschaltdatum und Trauerschleife versehen. Fotos aus der aktiven Zeit, auf denen der Reaktorkern blau leuchtet, vergilben an der Wand. Fußballpokale längst aufgelöster Betriebssportmannschaften stehen in Regalen.
 
Mit dem Abschalten beginnt eine mehrjährige Nachbetriebsphase, in der die Brennelemente ausklingen und schließlich per Castor entfernt werden. Hier wirkt noch vieles unverändert, die Atmosphäre erscheint aber gelassener zu sein als während des Leistungsbetriebs. Später im Prozess wird entweder direkt mit dem Rückbau begonnen, oder lange abgewartet, bis die Aktivität der Anlage deutlich abgeklungen ist. In einem solchen „sicheren Einschluss“ befindet sich der THTR, der Thorium-Hochtemperaturreaktor nahe Hamm. Bei meinem Besuch dort hat die Anlage noch drei Mitarbeiter, deren Büros sich am Ende eines Flures ihres einstigen Verwaltungsgebäudes befanden. Das Kraftwerk selbst war nur wenige Jahre in Betrieb und wirkt wie ein technisches Dornröschen-Schloss. Außen fallen bereits dicke, abgeschnittene Stromkabel auf, die aus der Wand ragen. Innen erscheint noch alles nagelneu. Auf verschiedenen Ebenen können wir den zylindrischen Reaktor umkreisen. Manche Wände sind bis an die Decke mit feingliedrigen Edelstahlleitungen und Messinstrumenten ausstaffiert, viele Armaturen zieren die Schilder nicht mehr existierender Hersteller. Auf einer mittleren Ebene steht ein verkleinertes, aufwendig gefertigtes Reaktormodell aus Graphit, in der Nähe ein riesengroßes Kunststoffmodell der Anlage aus Zeiten, in denen es noch kein CAD gab. Die Beleuchtung besteht streckenweise aus vergitterten kleinen Kellerlampen, deren Stromkabel alle paar Meter mit der Bitte beschildert ist, es nicht abzuschneiden. Abgetrennt und versiegelt dagegen sind alle Zuleitungen, in der Halle oberhalb des Kerns auch die einst hervorstehenden Dampferzeuger. An der Hallendecke ruht ein neuwertiger 100-Tonnen-Kran mit einer großen Glaskanzel, umständlich über Leitern erreichbar. Wann hat hier zuletzt jemand gesessen? Die Umkleidebereiche sind schon komplett von der Stromversorgung getrennt. Wir begehen sie mit einer Taschenlampe, neue saubere Räume in den hellen Beigetönen der frühen Achziger, viel Edelstahl, fast wie nachts in einem Schwimmbad. Das teure Innenleben der Ganzkörpermonitore wurde weiterverkauft, sonst ist noch alles da. „Hier“, sagt mein Betreuer nach eine Moment des Suchens, er zeigt auf das Namensetikett an einem Kleiderhaken. „Das war meiner.“

Ein Atomkraftwerk besteht primär aus Bergen von Beton und Stahl, und nur ein sehr kleiner Teil wird im Betrieb selbst radioaktiv. Beim Rückbau gilt es also, möglichst viel unbelastete Substanz abzutrennen. Dazu werden etwa die Farbschichten von den Wänden gemeißelt, und die meisten Komponenten zerlegt, gereinigt und abgestrahlt. Am Ende muß alles strahlungsfrei sein und in sogenannte Gitterboxen passen, die dann durch eine Messstation laufen: ein Kraftwerks-Inventar, zerlegt in eine endlose Kette mittelgroßer Postpakete. Die oft abgemeißelten Wände dagegen sind hinterher meist wie alte Mondlandungs-Fotos mit Kreuzen in Felder aufgeteilt, in denen die gemessene Rest-Strahlendosis steht. Im Laufe des Prozesses gehen natürlich zunehmend Funktionen verloren. In Mülheim-Kärlich wurden die schweren Luken der Personenschleuse durch eine Brandschutztür ersetzt, in Stade kann man einfach so durchgehen. Der Sicherheitsbehälter steht dort noch, innen befinden sich aber fast nur noch abgemeißelte Wände und abgestrahlter Stahl. Stade war der zweite von später 18 Siemens-Druckwasserreaktoren, und es ist verblüffend, dass etwa der Ringraum und viele bauliche Details hier mit denen im Rohbau von Angra 3 übereinstimmen, das vielleicht 50 Jahre nach Stade in Betrieb gesetzt werden wird. In Würgassen ist der atomare Rückbau schon abgeschlossen. An Stelle eines Sicherheitsbehälters klafft hier ein großer, kugelförmiger Hohlraum im Gebäude. Eine Freundin zeigte mir Handyfotos ihrer Begehung: Büros und Räume, die nach Jahren der Arbeit offenbar plötzlich verlassen wurden, groß gewordene Topfpflanzen, die sich über Dekaden um lichtspendende Fenster gewunden haben und dann vertrocknet sind – Szenen wie aus einem deutschen Pripjat. Kurz vor meinem Besuch wurde ausgeräumt, so dass die Aufnahmen ruhiger und weniger effekthascherisch werden. Im Lager finden sich Säcke voll teurer Probengläschen, die wohl bald im Altglas landen, und ein kleiner Karton mit Lochkarten. Es sind die Mikrofilme der Baupläne, das Lesegerät existiert schon nicht mehr.

Der letzte Schritt ist oft ein konventioneller Abriss. Die größte solche Abbruchstelle liegt nahe Stendal, was nur wenigen bekannt ist. Die DDR plante hier vier große WWER-Blöcke mit zusammen 4 Gigawatt Leistung. Zum Zeitpunkt der Wende war der erste zu 75 Prozent fertig, der zweite zur Hälfte. Kurzfristig war geplant, beide mit westlicher Leittechnik fertigzustellen und um zwei Konvoi-Anlagen zu ergänzen, diese und alle weiteren Kraftwerkspläne scheiterten aber. Seit vielen Jahren läuft nun der Abriss der verbleibenden Gebäude. Mit etwas Mühe telefoniere ich mich zum Rückbau-Verantwortlichen durch, erwarte aber, nicht mehr viel zu sehen. Als ich nach längerer Anfahrt mit einem der wenigen Busse von Stendal ankomme, finde ich zunächst ein großes Feld vor, dessen Boden aus glattgewalztem, frischen Betonschutt besteht. Hier und da sind Armiereisen zu sehen. Seitlich steht ein Häuschen aus den Siebzigern. Dort treffe ich auf den Verantwortlichen, der gerade die Tomatenernte ins Haus trägt. Daneben stehen ein paar Abbruchfahrzeuge. Es hat den Anschein, als ob hier zwei, drei Personen im Alleingang abreißen, was mit zehntausenden Arbeitern einmal der größte Rohbau des Ostens war. Mit leuchtend grünem Wasser vollgelaufene Keller sind die einzigen Reste der Notstrom-Gebäude. Im Hintergrund ist ein kleiner Flachbau erkennbar. Als ich näher komme, erkenne ich, daß es sich um den noch zwölf Meter hohen Stumpf von Block A handelt. Bizarr verbogene Stahlbewehrungen ragen aus den Abbruchkanten der meterdicken Betondecken. Innen blättert die Farbe von der Decke des Neubaus.

Bisweilen finden sich Nachnutzungs-Möglichkeiten. Der Schnelle Brüter wurde zum „Kernwasser-Wunderland“, einem Freizeitpark. Die inzwischen mit dickem grünen Teppich ausgelegte Warte des SNR-300 beherbergt einen Tagungsraum. An die Außenmauern wurden kleine Fachwerkhäuschen gesetzt, und im Kühlturm befindet sich ein Kettenkarussell. Ich entdecke sogar ein blaues Fläschchen mit hochprozentigem „Reaktorgeist“, der aber nicht mehr vertrieben wird. Auch der Name wurde inzwischen in „Wunderland Kalkar“ geändert, vielleicht auch treffender bei einem Brüter ohne Wasser im Kern. Standardmäßiges Ziel des Rückbaus ist aber die „grüne Wiese“. Nicht immer wird der entstehende Platz genutzt, das Verschwindenlassen ist bisweilen Selbstzweck. In Niederaichbach ist das zu besichtigen. An das einstige AKW erinnert auf der dortigen Wiese ein Gedenkstein. Das Gelände dient nach dem teuren Abriss als Weide. In Stade mußte ich nach Außenaufnahmen vor einer Bande dominanter Wiederkäuer fliehen, was nicht unkommentiert blieb: „Ja, Kühe sind in Kernkraftwerken immer die größte Gefahrenquelle.“ Hier, am Gedenkstein, ist das tatsächlich der Fall.

 

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