„Wollen Sie ehrlich sein? Besuchen Sie auch Tschernobyl?“, fragte mich ausgerechnet ein Mitarbeiter des Deutschen Atomforums. Er ist fast der einzige, der mir diese Frage gestellt hat. Es gibt genug Bilder von Tschernobyl. Jeder Ältere kennt das vom Hubschrauber aufgenommene Foto des explodierten Reaktors und die Aufnahmen des darum erbauten Sarkophags. Millionen Pressefotos gingen über die Jahre um die Welt. Robert Polidori veröffentlichte 2003 den Bildband „Zones of Exclusion“, eine Pioniertat, die das Kraftwerk und die Umgebung in überragenden Aufnahmen festhält. Zahllose andere Fotografen waren seither vor Ort, um verschiedenste Aspekte der Zone einzufangen. Gerd Ludwig zeichnete zehn Jahre später ein noch umfassenderes Bild, sein „Langer Schatten von Tschernobyl“ von 2014 zeigt auch die Menschen. Daneben sind die Zone und besonders die ehemalige Atomstadt Pripjat heute Touristenattraktionen ersten Ranges. Das Internet quillt über von Schnappschüssen des verfallenden Riesenrads, verfallenden Gebäuden, abblätternder Farbe und verlorenem Kinderspielzeug. Es gibt nichts Neues, das ich noch hätte zeigen können, und Bilder einer Stippvisite erschienen wie Wichtigtuerei. Ich musste trotzdem hin, der Mann hatte recht: Eine Atomgeschichte ohne das Unglück wäre in der Tat unehrlich.
Es dauert erwartungsgemäß etwas, aber ich erhalte eine Sondergenehmigung der Sperrzonenleitung zum Besuch des Kraftwerks. Im Februar 2018 ist es soweit. Mit einem alten Regionalzug geht es zunächst von Kiew nach Slawutytsch. Die Oberleitung ist vereist, der Zug erhellt die Nacht während seiner vierstündigen Fahrt mit gespenstisch-türkisen Blitzen, die bei uns mit den wärmer werdenden Wintern selten geworden sind. Slawutytsch ist der Ersatz für das verlorene Pripjat und wurde bis 1988 für die Arbeiter und Liquidatoren aus dem Boden gestampft. Verschiedene Teilrepubliken waren für den Bau einzelner Viertel dieser letzten sowjetischen Planstadt verantwortlich, was die Architektur so interessant wie vielfältig macht. Der Ort ist nur zu zwei Dritteln fertig geworden und stagniert, gleich am Bahnhof werde ich von einer Bauruine begrüßt. Die fertigen Gebäude aber wirken modern und sind gut in Schuss, Wege sind eher für Fußgänger als für Autos ausgelegt, und die schneebedeckte, teilweise baumbestandene Innenstadt wirkt wie eine sozialistische Utopie.
Am nächsten Morgen geht es in die Zone. Der mit Arbeitern vollbesetzte Zug überquert den vereisten Dnjepr und fährt ein ganzes Stück durch einen weißrussischen Teil des Sperrgebiets, eine winterliche Waldlandschaft, in der hier und da verfallende Gebäude zu sehen sind. Dann tauchen die bekannten Umrisse auf, die unvollendeten Blöcke 5 und 6 sowie der lange Riegel, an dessen Ende sich der Unglücksreaktor mit seinem neuen Sarkophag befindet. Wir kreuzen den riesigen Pripiat-Fluss und sind da. In Schlangen stehende Arbeiter, Ausweiskontrollen und Strahlenschutzprozeduren folgen. Überall hier finden sich Hinweise auf ukrainisch und russisch. Während in Kiew das Russische im öffentlichen Raum weitgehend durch Englisch ersetzt wurde und die Feindschaft mit Russland überall sichtbar ist, herrscht hier ein kooperativerer Geist. Mein Betreuer bekommt das genehmigte Programm. Bis dahin war nicht klar, was ich überhaupt sehen darf. Dann geht es in die Anlage, die mich zuerst mit ihrer Inneneinrichtung überrascht. Im Verwaltungstrakt aus den Neunzigern finden sich Laminatböden, mit Sprossenfenstern versehene Wohnzimmertüren und passende Gardinen. In der Kontrollbereichsumkleide hängt neben grauen Spinden ein ovaler, mit Schmiedeeisen umschnörkelter Flurspiegel. Die Gänge sind mit gemusterten Küchenfliesen ausgelegt und auch andere Details stammen eher aus dem Privatbereich.
Wir ziehen uns um und sehen kurz darauf aus wie Mitarbeiter einer Kochbrigade, mit weißer Kluft und Haube. Es geht durch den endlosen goldenen Korridor, der an allen Blöcken entlang führt und mit gefärbten Alu-Panelen verkleidet ist, und dann durch Treppenhäuser und Seitengänge. Hier ist der Boden streckenweise mit dicken Silikonbahnen ausgelegt, die sich links und rechts an den Wänden hochbiegen und im Lauf der Jahrzehnte eine abgeschabte, bräunlich-gelbe Textur angenommen haben. Aus Treppen werden damit rutschige Wellenmuster. Und dann kommen wir in den Reaktorsaal von Block 3, der bis Ende 2000 in Betrieb war: ein länglicher, zehn Etagen hoher Schuhkarton mit gelbgrünen Wänden und abgenutztem Edelstahlboden. Dort prangt der Reaktor, eine aus metallischen Pixeln zusammengesetzte Scheibe, auf der wir umher laufen können. In der Ecke steht die komplizierte Wechselmaschine, Stolz der sowjetischen Ingenieure, mit der im laufenden Betrieb die Brennstoffkassetten getauscht werden konnten. Die Halle wirkt leergeräumt und ist kühl. Wir besichtigen auch die Haupt-Umwälzpumpen, gelbe Zylinder, die sechs Meter aus dem Boden ragen, und die Warte von Block 3. Das graue Halbrund, die Anzeigen und Pulte wären eines imperialen Sternenzerstörers würdig, der Natursteinboden passt eher zu einer mediterranen Terrasse. Mein Betreuer zeigt mir grob, welche Knöpfe und Zeiger welche Funktionen haben, und auch den Drehschalter, der das Einfahren der Steuerstäbe auslöst, was in Block 4 die Katastrophe besiegelte. Dieser und andere Notfallelemente sind mit Klappdeckeln geschützt, welche mit Wachssiegeln verplombt wurden. Auf einem Beistelltisch steht ein rotes Telefon.
Den Übergang zu Block 4 bemerke ich im Korridor nicht. Eine Seitentür, und schon stehen wir in der Unglückswarte, oder jedenfalls den Überresten. Bodenbelag und Deckenverkleidung wurden entfernt, vor allem aber wurde der vorbeiführende Gang verfüllt und ein neuer Gang durch den hinteren Teil des Raums gelegt, der nun kurz hinter den noch erhaltenen Pulten an einer grauen Kellerwand endet. Die Neonröhren an dieser Wand tauchen den Raum in ein fades, homogenes Licht. Die Pulte und Wandelemente selbst sind angerostet, mit Farbsprenkeln übersät, verstaubt und zum größten Teil ihrer Schalter und Schreiber beraubt. Mit Mühe sind noch Spuren des rosafarbenen Dekontaminationsüberzugs erkennbar. Es hat den Charme eines Heizungskellers mit alten Flipperautomaten. Für mich ist kaum fassbar, am Auslösepunkt der Katastrophe und nur einen Steinwurf entfernt von der Kernschmelze zu stehen. Ich schaue auf die geplünderten Instrumententräger und murmele „Touristen“. Mein Betreuer schaut mich an. „Nein, keine Touristen. Hierhin kommen nur sehr selten andere Menschen.“ Die Elemente wurden als Ersatzteile verwendet. Hinter der Armaturenwand gibt es dafür nagelneue Anzeigen. Die Warte dient wieder als Kontrollraum, diesmal für die Sensoren aus dem Sarkophag. Ob ich ein Foto von mir wolle? Ich winke ab. Mein Dosimeter piept: Das erste Mikrosievert, fast nichts.
Wir besuchen auch offizielle Gedenkorte, und schauen den neuen Sarkophag, das sogenannte New Safe Confinement, aus der Nähe an. Die doppelwandige Edelstahlhalle ist 108 Meter hoch, genau wie der Zeppelinhangar von Cargolifter bei Berlin, der heute eine tropische Urlaubslandschaft beherbergt. Neben der Kraftwerksanlage steht eine kilometerlange Reihe von Umspannwerken mit hoch aufragenden Blitzableiterspitzen, fremdartig geformte Strommasten führen die Leitungen zu. Eine Tarkowski-Landschaft. In der Ferne ist die 150 Meter hohe und einen halben Kilometer breite Empfangsantenne des Ionosphärenradars Duga-1 erkennbar, ein Raketenfrühwarnsystem aus dem Kalten Krieg. Erst kürzlich ist wieder ein Abenteurer heruntergestürzt – ein „Stalker“, mit Sicherheit nicht das letzte Opfer der Zone. Die WHO bezifferte 2005 die Zahl der durch Strahlenfolgen zu erwartenden Todesfälle auf etwa 4000, gut die Hälfte davon ehemalige Liquidatoren. Die Zahlen erscheinen den Verantwortlichen hier so absurd untertrieben, daß mein Begleiter nur trocken auflacht. Er zeigt noch eine ganze Sammlung an Ansteckern und Verdienstabzeichen, auch den Orden der Liquidatoren: ein Blutstropfen mit Symbolen für Alpha-, Beta- ud Gammastrahlung. Bei den Flohmarkthändlern in Kiew ist er für ein paar Euro zu haben.
Wir verlassen die Zone wieder mit der Bahn. Die Abendsonne färbt den Himmel orange und taucht die Schneelandschaft mit Sarkophag hinter den trüben Zugfenstern in ein seltsam nostalgisches Licht.